Zitaterismus
Ein gutes Zitat zur rechten Zeit — wer das drauf hat, der steht gut da in einer Diskussion. Da ich für manche Dinge ein schlechtes Gedächtnis habe, reicht’s bei mir meist nur zu „Morgenstund‘ hat Gold im Mund“. Glauben Sie mir, es ist nicht leicht, damit in einem Diskurs über die Krimkrise ernsthaft zu punkten.
Andererseits: Ein passendes Zitat kann man sich auch selbst basteln. Wer kann das Gegenteil beweisen? Ich versuch’s mal. Wie wäre es hiermit:
Bereits Lenin sagte: „Lasst die Krim den Krimsern, äh, Krimenen? Krimerianern? Na, ihr wisst schon!“
Unweigerlich wird meine Zuhörerschaft in ein bewunderndes Staunen über so viel Belesenheit, Wissen und den Mut verfallen, dass ich mir dieses Gestammel auch noch öffentlich abringe.
Facebook ohne Zitate?
Zitate sind in. Facebook lebt zu 98 % von Zitaten. Am besten sind sie eingebunden in eine Grafik, denn das ermöglicht selbst Menschen, die entweder nicht lesen können oder den Sinn eines Zitats im Zweifel sowieso nicht begreifen, wenigstens die hübschen Bildchen zu teilen.
Ohne Zitate könnte Zuckerberg seinen Facebook-Serverpark samt Festplattenspeicher in einem Schuhkarton unterbringen. Grösse 38 reicht. Na gut, nehmen wir besser Grösse 41 — ich habe die Katzenbilder vergessen.
Zitat in der Praxis
Jüngst — in einer Präsentation der Zukunftswerkstatt Birstein — wurde ein Zitat von Woody Allen benutzt:
„Ich denke viel an die Zukunft, weil das der Ort ist, wo ich den Rest meines Lebens verbringen werde.“
Ein richtiger Gedanke, oder? Zumindest auf den ersten Blick, denn: Wer Woody Allens Arbeit ein wenig kennt, der weiss, dass er oft Witziges, ja, Absurdes formuliert hat, um auf das vernünftige Gegenteil hinzuweisen. Vielleicht hat er den Satz also ganz anders gemeint?
Zudem ist das Zitat natürlich aus dem Englischen übersetzt — wie lautet das Original? Ein Blick ins Internet liefert mindestens drei Versionen (das ist langweilig, Sie können den Teil ruhig überspringen):
so gefunden im Internet
meine Übersetzung
„I think a lot about the future. It’s where I’m going to spend most of my time.“
„Ich denke viel über die Zukunft nach. Dort werde ich den Grossteil meiner Zeit verbringen.“
„I think a lot about the future because I’ll have to spend the rest of my life in it.“
„Ich denke viel über die Zukunft nach, denn ich werde den Rest meines Lebens darin verbringen müssen.“
„I think a lot about the future because that is the place where I will spend the rest of my life.“
„Ich denke viel über die Zukunft nach, denn das ist der Platz, an dem ich den Rest meines Lebens verbringen werde.“
Das letzte „Original“ dürfte die Grundlage des Zukunftswerkstatt-Zitats sein. Ich habe es anders übersetzt („Ort“ ist hier sicher keine gute Wahl, „Platz“ trägt dem zeitlichen Charakter der Aussage ein wenig mehr Rechnung), was nicht entscheidend ist — aber belegt, wie wacklig die Grundlage solcher übersetzten Zitate ist. Wie viele Versionen mag es noch geben — und welche ist das Original?
Aus Sicht der Zukunftswerkstatt ist das nicht wichtig. Es kam auf den Gag an und der ist gelungen. Doch das Phänomen der Zitateritis beschreibt es schön: Wer hat wann was gesagt, warum — und was wurde ursprünglich damit gemeint?
Eine belegte Quelle für das Woody-Allen-Zitat habe ich bisher nicht gefunden. Wenn ich mir heute einen pfiffigen Spruch ausdächte, Woody Allen in den Mund legte und es als Bildchen bei Facebook veröffentlichte — wie lange dauerte, bis es die Runde durch die Republik gemacht haben wird?
Wie wär’s mit …, hmm, ääähhh, ja!: „Morgenstund‘ hat Gold im Mund“? Das ist garantiert von Woody Allen.
-fj